Der Brite Alex Dowsett ist Profiradrennfahrer mit schwerer Hämophilie A. Im November versuchte er, sich einen Weltrekord zurückzuholen, den er 2015 bereits für 35 Tage gehalten hatte. Und er wollte ein Zeichen setzen: Blutgerinnungsstörungen sollen niemanden daran hindern, für seine Träume zu kämpfen. // Lukas Zahrer

In einer Stunde könnte ich im Schnitt 15.000 Wörter lesen, das sind zirka 50 Seiten in einem Buch. In derselben Zeit könnte ich mir den Song „Last Christmas“ 13 Mal ganz anhören, beim 14. Mal bricht das Lied in der Mitte ab. Wenn ich in Linz in den Railjet in Richtung Westen steige, befinde ich mich nach einer Stunde in der Anfahrt zum Salzburger Hauptbahnhof. Alex Dowsett legt in dieser Zeit exakt 54,555 Kilometer zurück. Mit dem Rad.

Der Brite ist 33 Jahre alt, er fährt seit elf Jahren in der höchsten Rad-Liga der Welt, ist sechsfacher Staatsmeister und gewann beim prestigeträchtigen Giro d’Italia zwei Etappen. Im Jahr 2019 absolvierte er die Tour de France. Achja, Dowsett hat schwere Hämophilie A.

Ich habe ihn einmal vor einigen Jahren bei einem Kongress getroffen. Er hat mir dort seine kleine Einschränkung im Ellbogen gezeigt, den er nicht mehr ganz ausstrecken kann. Ein Sprunggelenk sei hin und wieder „sore“, das ist ein schönes englisches und schwierig zu übersetzendes Wort für einen Körperteil, der hin und wieder nervt. Aber zu sagen, dass man dort „pain“ verspürt, also chronische Schmerzen hat, wäre übertrieben, deshalb sagt Dowsett eben „sore“.

Dowsett wirkt wie ein normaler Hämophiler, wenn man mit ihm spricht. Er erzählt von seiner Diagnose als kleiner Bub, den Sorgen, die sich seine Familie machte, und dass er wegen seines Berufs natürlich besonders auf die Prophylaxe achtet. Wenn man ihn auf den naheliegenden Witz anspricht, dass Nadeln und Spritzen bei Radfahrern ja gern gesehen sein müssten, lacht er sogar freundlich, obwohl er ihn bestimmt schon tausende Male gehört hat.

Dünne Luft

Im vergangenen November hätte sich Dowsett eine schöne Zeit mit seiner Lebenspartnerin und der gemeinsamen Tochter machen können. Die lange, qualvolle Saison war vorbei, Teamkollegen und Konkurrenten fuhren in den Urlaub. Dowsett reiste nach Aguascalientes in Mexiko. Ob er eine Schwäche für Tequila und Margaritas hat, ist nicht überliefert, bei seinem Lifestyle allerdings schwer vorstellbar. Das Reiseziel wählte er wegen eines hübschen Velodroms aus. Aguascalientes liegt auf 1.888 Höhenmeter, die Luft ist also dünn, was Radfahren in der Ebene grundsätzlich einfacher macht. Dowsett wollte den Stundenweltrekord im Radfahren brechen.

Den Weltrekord hält weiterhin der mit freilich unbedenklichen Faktorlevels geborene Belgier Victor Campenaerts mit einer Marke von 55,089 Kilometer. Diese Zahl, und alle möglichen darüber, waren Dowsetts Ziel, es sollte aber nicht sein. Im Jahr 2015 stellte Dowsett bereits einmal einen Weltrekord im Stundenweitradeln auf, mit 52,937 Kilometern. In Mexiko lief es in der ersten Rennhälfte exzellent, danach riss er einen Rückstand auf, den er nicht mehr aufzuholen vermochte.

Langer Atem

Doch seine Mission war eine andere: Er wollte Aufmerksamkeit schaffen für die Hämophilie. Nach den 60 Minuten sollten deutlich mehr Leute über Blutgerinnungsstörungen Bescheid wissen als zuvor. Er führte Interviews mit internationalen Medien, da sprach er selbstverständlich über das Radfahren, erklärte aber auch seinen Weg zur Diagnose, Ängste und Herausforderungen, und seinen Weg zum Radprofi.

Vor einigen Jahren gründete Dowsett die Bewegung „little bleeders“. Sie setzt an der Basis an, unterstützt junge Leute mit Blutgerinnungsstörungen, um sie zur Bewegung und zum Sport zu bringen. Beim Weltrekordversuch startete er einen Spendenaufruf. Als Richtmarke gab er 15.000 Pfund (17.600 Euro) aus. Am Ende kamen über 53.000 Pfund (62.200 Euro) zusammen. Den Weltrekord hat er verpasst, das wichtigere Ziel aber pulverisiert. „Die größte Niederlage wäre gewesen, es nie versucht zu haben“, sagt Dowsett. ••

www.littlebleeders.com

Vor einigen Jahren gründete Dowsett die Bewegung „little bleeders“

Alex Dowsett mit seiner Partnerin Chanel kurz nach dem Weltrekordversuch.
©Instagram/alexdowsett; Kreisbild: Nicola, ­Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0