LA Aguayo war schon völlig hinüber, mit den Nerven nicht nur am Ende, er hatte sie alle schon längst entsorgt. Doch ihm gelang, sich aus einem tiefen, düsteren Loch zu ziehen. Durch Bodybuilding. // Interview: Lukas Zahrer

Aguayo ist 33 Jahre alt, er hat drei Kinder, schwere Hämophilie A, und seit dem Blutskandal der 1980er-Jahre lebt er mit Hepatitis C. Dies ist die Geschichte eines Menschen, der keine Vorbilder hatte, und deshalb selbst eines wurde. Dabei ist sein Ziel plump und simpel: Er will nur die Hand von Arnold Schwarzenegger schütteln.

FAKTOR: Was fasziniert dich am Bodybuilding?

LA Aguayo: Das Gym ist mein sicherer Hafen, dort herrscht keine Hektik. Ich bin es, der dort die Kontrolle hat. Für harte Arbeit wird man belohnt. Und der Sport ist zugänglich, die Kosten für den Einstieg sind überschaubar.

Kannst du nachvollziehen, dass du mit deinem Körper auf manche einschüchternd wirkst?

Absolut, ich hatte ja selbst Schiss vor den Leuten, als ich zum ersten Mal ins Fitnesscenter fuhr. Ich kann mich noch gut an ein Plakat erinnern, das im Gym hing. Es zeigte den damaligen Bezirks-­Champion im Bodybuilding. Das hat Eindruck hinterlassen, so wollte ich auch eines Tages aussehen. Du musst dir vorstellen, ich hatte ja absolut keine Ahnung vom Gewichte stemmen. Nach den ersten Trainings blutete ich in den Gelenken, ich hatte mit viel zu großen Gewichten begonnen und kein bisschen auf die Technik geachtet.

Wie bist du zu solch einer Maschine geworden?

Diese Geschichte wird jetzt etwas heftig, ich muss weiter ausholen. Es ist jetzt sieben Jahre her, als ich für die Behandlung meiner Hepatitis C ins Spital musste. Drei Monate lang war ich wirklich schwer krank, mir ging es dreckig. Ich musste mich täglich übergeben, verlor viel Gewicht, und schaute in den Spiegel. Da blickte ein Mann zurück, wie ein Strich in der Landschaft, abgemagert und blass. Weißt du, was mir durch den Kopf ging?

Erzähl es uns bitte.

Warum passiert mir das alles? Ein gesundheitliches Problem nach dem anderen. Ich fühlte mich, als ob es keinen Unterschied mehr macht, ob es mich noch weiter gibt oder nicht. Ich wollte eigentlich allem ein Ende setzen. Ich sah keinen Grund mehr zu leben.

Was hat dir in dieser Zeit geholfen?

Mir gingen tausende Gedanken durch den Kopf. Ich wandte mich auch an Gott, auch wenn ich kein allzu gläubiger Mensch bin. Irgendwoher kam folgender Gedanke: Wenn ich anderen Leuten mit meinen Erfahrungen helfen könnte, macht das alles wieder Sinn. Ich wünschte mir, ein Vorbild für die Hämophilie-­Community zu sein. Nur: Wenn ich das werden möchte, sollte ich besser auch wie ein Vorbild aussehen, oder? Also meldete ich mich im Gym an.

Wie ging es weiter?

Ich wurde besessen vom Training. Zunächst holte ich mir Tipps auf YouTube, später verschlang ich Bücher. Ich gab Vollgas, jeden Tag. Mein Ziel: als erster Hämophiler auf einer Bühne bei solch einem verrückten Wettbewerb im Bodybuilding stehen. Und ich erkannte Parallelen: Nicht nur die Muskeln bildeten sich weiter, auch meine Persönlichkeit. Meine Reise begann ich mit anderen zu teilen.

Auf deiner Instagram-Seite (@chronic_physique) zeigst du nicht nur deine guten Tage, sondern beschreibst auch die schlechten. Bewusst?

Mir ist aufgefallen: Ich hatte nie einen Mentor mit Hämophilie, mit dem ich mich identifizieren konnte. Ich schämte mich in meiner Kindheit sogar für meine Gerinnungsstörung. Vielleicht wäre es mir besser gegangen, hätte ich solch eine Person gekannt. Es gibt viele Leute, die sich wenig zutrauen. Als ich damit begann, fand ich auf Instagram niemanden, der über Hämophilie redet. Ich hörte auf darüber nachzudenken, was andere von mir halten. Ich war es satt. Ich will dieses Vorbild für andere sein. Dem habe ich mich verschrieben. Und dazu gehört es, offen zu sein und über unangenehme Dinge zu reden – und sie eben auch auf Instagram zu posten.

Wie waren die ersten Rückmeldungen?

Nicht gut. Die Leute sagten, ich sei komisch, poste da Bilder von mir oben ohne. Zu dieser Zeit war es schräg. Mir war das egal, ich zog es durch. Und dann passierte ganz großes Kino.

Was denn?

Mir schrieben Leute, dass sie sich wegen mir mehr zutrauen. Sie sprechen offener über Hämophilie, teilten ihre Geschichten mit mir, schrieben in ihre Bio, dass sie Hämophile sind. Das gab mir unheimlich viel Kraft.

Warst du eigentlich schon als Kind sportlich?

Meine Eltern waren ziemlich vorsichtig. Ich wollte unbedingt Fußballer werden. Damit es meine Mutter erlaubte, schrieb ich einmal sogar einen Brief. Darin stand in etwa: „Mama, bitte, ich habe nur ein Leben, lass mich spielen.“ Sie fand eine Liga, in der mit einem Softball gespielt wurde anstatt mit einem üblichen Lederball. Ich durfte spielen, bekam aber trotzdem eine Menge Blutungen.

Wie verlief deine Kindheit?

Ich war ganz schön frech, ließ mir wenig sagen. Meine Eltern ließen sich früh scheiden, deshalb waren sie nicht so streng mit mir. Wenn ich in der High School etwas wollte, tat ich es auch. Einmal schrieb ich mich für einen Kurs im Wrestling ein.

Wie ist das gelaufen?

Ich habe eine Woche durchgehalten. Ziemlich schnell war klar: Das tut weh. Dann trat ich den Golden Gloves St. Louis bei, ein Verein, in dem die besten Boxer der Stadt trainierten. Dort war ich zwei Jahre lang.

Ich traue mich fast nicht zu fragen: Wie war’s?

Furchtbar. Ich hatte Glück, dass ich da lebend raus gekommen bin. Aber ich brauchte das, war immer dieser verrückte Kerl am Limit, der das Risiko liebt. Rückblickend weiß ich, dass ich meine Hämophilie erst in meinen 20er-Jahren vollständig verstanden und akzeptiert habe. Ich wechselte wieder die Sportart.

Und zwar?

Ich wollte Golfprofi werden. Dafür gibt es eine Art Prüfung, bei der man über 36 Löcher einen bestimmten Wert erreichen muss. Dreimal habe ich es versucht, und dreimal bin ich durchgefallen. Der vierte Versuch war mein letzter: Wegen vieler Einblutungen konnte ich meine Arme schon nicht mehr ganz durchstrecken, und mein Knöchel spielte nicht mehr mit. Ich merkte, dass es meinem Körper immer schlechter ging und meine Zeit begrenzt ist. Aber an diesem Tag hatte ich Glück. Ich habe bestanden. Nach diesen 36 Löchern und stundenlangem Golf war ich körperlich im Eimer. Die Golfkarriere war beendet, bevor sie offiziell begonnen hat.

Wie sieht deine Prophylaxe heute aus?

Ich spritze 6.000 Einheiten, zweimal pro Woche. Ich habe aber ein gutes Gefühl dafür, wenn ich mehr Faktor brauche, dann spritze ich zusätzlich.

Wie geht es deinen Gelenken?

Es ist ein täglicher Kampf. Mein linker Ellbogen ist stark eingeschränkt. Der rechte Knöchel ist am meisten betroffen. Ich habe täglich Schmerzen, oft auch in der Nacht, die Schmerzen behandle ich auch.

Wieviel trainierst du?

Ich bin jeden Tag im Gym. Cardio-Training ist bei mir gar nicht so einfach, weil meine Gelenke stark eingeschränkt sind. Der Crosstrainer ist das einzige Gerät, auf dem es funktioniert. Mit den Armen stütze ich dabei mein Eigengewicht, damit ich keine Blutung in den Beinen bekomme. So erreiche ich das Ziel: Es bringt meine Herzfrequenz in die Höhe und verbrennt Kalorien. Fünfmal pro Woche stemme ich Gewichte. Eine Einheit dauert bloß 45 bis 60 Minuten. Pro Tag konzentriere ich mich auf eine, maximal zwei Muskelgruppen. Der noch wichtigere Teil passiert aber danach: richtig essen, gut schlafen und erholen.

Bist du süchtig nach dem Training?

Alle Dinge, die positive Gefühle auslösen, haben Suchtpotenzial. Ich bin weniger süchtig nach dem Training, sondern nach der Anerkennung. Ich komme aus keinem allzu familiären Umfeld. Als Kind fehlte mir jemand, der mir sagt, dass das gut ist, was ich im Leben so mache. Durch das Bodybuilding änderte sich das. Heute bin ich bereit, alles dafür zu opfern, um andere Leute zu inspirieren. Für viele in meinem Umfeld ist das nicht nachvollziehbar, aber für mich kommt Bodybuilding vor allem anderen.

Du bist tätowiert. Kannst du das guten Gewissens empfehlen?

Ich war schon immer ein Rebell, habe Dinge getan, die ich vielleicht nicht hätte tun sollen. Aber war immer vorbereitet, habe ausreichend Faktor vor und nach einem Termin beim Tätowierer gespritzt. Und jedes Mal ging alles gut. Heute habe ich an die 20 Tattoos. Auch von vielen anderen Hämophilen hörte ich von keinen Komplikationen. Aber nicht falsch verstehen: Das Stechen selbst tut schon weh.

Nochmal zum Bodybuilding. Ich habe auf deinem Instagram-­Profil vom Arnold Schwarzenegger Classic gelesen. Was ist das?

Daran werde ich mich ein Leben erinnern. Es ist schon fünf Jahre her, das war mein bisher größter Wettbewerb. So gut wie jedes Land der Welt war vertreten. Dass ich es als Mann mit schwerer Hämophilie hinschaffte und mich mit den Besten der Welt messen konnte, war unglaublich. Ich will es wieder dorthin schaffen. Damals war ich noch nicht in Topform, im Training habe ich noch Reserven. Mir fehlt gar nicht so viel, um mit den Allerbesten mitzuhalten. Der Sieger des Arnold Schwarzenegger Classic darf Arnold Schwarzenegger die Hand schütteln. Ich will dieses verdammte Foto mit Arnie! ••

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